Realismus

Realismus (lat.), im allgemeinen diejenige Welt- und Lebensauffassung, welche, von der äußern sinnlichen Wahrnehmung ausgehend, bei dieser und den sich in ihr offenbarenden Gesetzen des ursachlichen Zusammenhangs, als dem allein Seienden, weil Wirkenden und daher Wirklichen, beharrt, im Gegensatz zum Idealismus (s. d.) oder derjenigen Welt- und Lebensauffassung, die sich der Geist aus Ideen, d. h. ihm selbst vor und unabhängig von aller Erfahrung eignen Begriffen, entwickelt. Jener schätzt die Dinge nach der Bedeutung, die sie im ursachlichen Zusammenhang, also ihren Wirkungen nach haben, dieser nach dem Grad, in welchem sie seinen Ideen entsprechen, oder nach der Bedeutung, die er ihnen durch diese verleiht. Jener wählt seine Zwecke aus der wirklichen Welt, dieser schreibt sie der letztern vor nach dem Vorbild seiner Ideen. In so entschiedenen Gegensatz beide zu einander im Leben, in der Kunst und Wissenschaft stehen, sind sie doch innerlich verbunden und aufeinander angewiesen. Den Bestrebungen des R. würde es ohne Antriebe von seiten der Ideen an Schwungkraft und Tragweite, dem Idealismus ohne Kenntnis des ursachlichen Zusammenhangs der Dinge an der Möglichkeit fehlen, seine Ziele zu erreichen. Daß beide getrennt sich in Extreme verirren können, hat den Worten Realist und Idealist eine üble Nebenbedeutung gegeben. – Unter R. in der Kunst versteht man im allgemeinen diejenige Darstellungsweise, welche vorzugsweise auf Naturnachahmung ausgeht und in der Naturwahrheit ihr vornehmstes Ziel erkennt, daher auch vorzugsweise die künstlerische Technik begünstigt. Der R. muß daher bei denjenigen Künsten am stärksten hervortreten, welche auf Naturnachahmung angewiesen und an diese gebunden sind, wie die Plastik, die Malerei, die Poesie und die mimischen Künste, am meisten die Schauspielkunst. Derselbe sinkt zum Naturalismus (s. d.) herab, wenn er die Naturwahrheit in einseitiger Weise verfolgt und die der Kunst eigentümlichen (ästhetischen) Wirkungen dabei aus den Augen verliert, um mit dem Schein der bloßen Natürlichkeit zu täuschen.

Im engern Gebiet der Philosophie ist der R. die Verneinung derjenigen metaphysischen Systeme, welche die verschiedenen Gattungen des theoretischen Idealismus vertreten. In diesem Gegensatz handelt es sich nicht sowohl um die reine Entgegenstellung von Sein und Nichtsein, von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, von Realität und Nichtrealität als um die Bestimmung der Art von Wirklichkeit, die gewissen Existenzen zuzuschreiben ist. Der Traum hat eine andre Art von Realität als der wache Zustand. Wer der Welt und dem Leben, wie die indische Philosophie, nur eine dem Traum verwandte Wirklichkeit zugesteht, ist Idealist (s. Indische Philosophie). Das kritische Verhalten Kants, welches er selbst kritischen Idealismus nannte und dem träumenden Idealismus entgegenstellte, beruht auf der Voraussetzung, daß Raum und Zeit nicht diejenige Art von Wirklichkeit haben, die ihnen in der gemeinen Auffassung zugeschrieben wird. Der metaphysische R. behauptet im Gegensatz zu Kant, daß Erscheinungen, d. h. Existenzen in Raum und Zeit, den höchsten Grad aller nur möglichen Realität repräsentieren. Die nachkantische deutsche Philosophie, insofern sie, wie Fichte, an das Subjekt (als Träger der Erfahrung) anknüpft, ist idealistisch, insofern sie, wie Herbart, an das Objekt (als Substrat der Erfahrung: Kants Ding an sich) anknüpft, realistisch; Schopenhauer ist im ersten Buch seines Hauptwerkes, welches die Welt „als Vorstellung“ enthält, Idealist, im zweiten, welches die Welt „als Wille“ darstellt, Realist. Der metaphysische R., welcher vom empirischen, erfahrungsmäßigen, Schein der Erscheinungswelt auf das Sein einer denselben notwendig voraussetzenden intelligibeln (als der wahrhaft wirklichen) Welt schließt, ist transcendentaler, dergleichen der Kantsche Kritizismus, derjenige dagegen, der das Sein der empirisch gegebenen (sogen. wirklichen) Welt für das wahre Sein hält, gemeiner (empirischer) R., dergleichen der (ordinäre) Materialismus und (Comtesche) Positivismus ist. Im Mittelalter bezeichnete der Gegensatz von Nominalismus und R. die Anerkennung, resp. Leugnung der Realität der Universalien, d. h. der allgemeinen Begriffe (s. Nominalismus). Vgl. v. Kirchmann, Über das Prinzip des R. (Leipz. 1875).

Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens
4. Auflage, 1885-1892, 16 + 3 Bände, 16.600 Seiten, 200.000 Exemplare

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