Guntrun Müller-Enßlin: 109. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 – 30.01.2012

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Rede von Guntrun Müller-Enßlin bei der 109. Montagsdemo

Liebe Freundinnen und Freunde,
es ist Ende Januar, die Narren holen ihr Häs aus dem Schrank und auch in der Politik ist Narrenzeit.

Am Südflügel wird seit heute Mittag denkmalgeschützte Bausubstanz zerstört; die noch größere Untat der Schlossgartenrodung steht kurz bevor. Das was zwei Weltkriege, was Notzeiten mit Holzknappheit und was selbst der Götzendienst am grotesken Ideal der autogerechten Stadt in den 50er Jahren nicht vermocht haben, das soll nun ohne Not vollzogen werden in einer Zeit, in der bereits ein Umdenken in Sachen Umwelt und Naturschutz eingetreten ist und selbst die CDU die Ökologie als Thema für sich entdeckt hat.

Als sei das der Tollheit noch nicht genug, so wird diese Narrenposse ausgerechnet von einer Regierung durchgesetzt, die sich behutsamen Umgang mit Ressourcen, gezielte Investitionen in erneuerbare Energien, Ökologie, Bildung und Soziales in ihr grünes Programm mit der netten gelben Sonne geschrieben hat. Närrischer geht’s nicht. Nur schade – das Lachen bleibt uns dabei im Hals stecken.

Denn unser Schlossgarten mit seinen prachtvollen mehrhundertjährigen Riesen, den Platanen, Kastanien, Robinien, Eichen, Buchen und der Blutbuche, dieser Schlossgarten ist etwas vom Schönsten und Wertvollsten, was wir in Stuttgart haben. Es blutet einem das Herz angesichts der offenbar durch nichts mehr aufzuhaltenden finalen Barbarei inmitten unserer Stadt. Wer sich in unserer gnadenlosen Wettbewerbsgesellschaft auch nur einen Rest Menschlichkeit und Respekt vor unserem Kosmos und seinen Geschöpfen bewahrt hat, der blickt fassungslos auf die eiskalte schamlose Geschäftsmäßigkeit, mit der die Projektinitiatoren das Räderwerk zum Vollzug dieses Naturfrevels ablaufen lassen, so als ginge es nicht um jahrhundertealtes Gewachsenes, mit dessen Zerstörung wir uns selber die Lebensader durchtrennen. Skandalös ist es, dass es möglich sein soll, die Instrumente unserer Demokratie zur Durchsetzung einer solchen bodenlosen Dummheit zu missbrauchen. Wie ist es um die Tauglichkeit eines Rechtsstaats zum Wohl der Menschen bestellt, wenn man zulassen muss, dass einem kollektiven Organismus, zu dem man selber gehört, die Lunge herausgeschnitten wird, nur weil ein Teil unserer Bevölkerung sich dafür ausgesprochen hat, in Zukunft ohne Lunge leben zu wollen? Der Kahlschlag an jenem traurigsten aller Tage wird denn auch vollumfänglich sein und in unserer Stadt weit mehr zerstören als den intakten Schlossgarten.

Nach Wochen gespenstischen Schweigens vonseiten unserer gewählten Regierungsvertreter zu all dem, was hier seine Schatten voraus wirft, erreichte uns gestern eine Antwort von Ministerpräsident Kretschmann auf einen kurz nach Weihnachten geschriebenen offenen Brief aus unseren Reihen.

Nach dem Lesen dieser Antwort des Ministerpräsidenten habe drängt sich der ebenso niederschmetternde wie alarmierende Eindruck auf: Hier setzt jemand einen so genannten Mehrheitsentscheid absolut, sei er auch noch so offensichtlich zum irreparablen Schaden einer Bevölkerung. Begriffe wie Wahrheit und Lüge werden zur Beliebigkeit weichgespült und als Folge davon werden alle vernünftigen und stichhaltigen Sachargumente gegen Stuttgart 21 zum Ausverkauf freigegeben. Da kann man nur noch sagen: Eine solche Denke ist die sichere Einbahnstraße, auf der wir unseren Planeten auf dem kürzesten Weg vollends an die Wand fahren – alles schön buchstabendemokratisch legitimiert, damit es auch seine Ordnung hat – und Sie, Herr Kretschmann, haben dazu beigetragen.

Wir Gegner von Stuttgart 21 sagen: Es ist verheerend und absolut unzulässig, wenn man zugleich mit dem Ausgang des Volksentscheids sein Gewissen mitsamt dem gesunden Menschenverstand wie einen alten Hut an den Nagel hängt.

Ich weiß nicht, ob sich unsere Regierung vorstellen kann, was in Stuttgart los sein wird, wenn der Park angetastet wird. Die Menschen werden sich niemals mit der Verstümmelung im Herzen ihrer Stadt abfinden. Die Fällungen werden bei den Mitstreitern gegen S21 eine offene Wunde hinterlassen, und die mit Billigung unserer grünen Landesregierung begangene Untat wird niemals verziehen und vergessen werden. Wir sagen Ihnen voraus: Der Makel der Schlossgartenrodung wird für alle Zeit nicht nur an Ihrer grünen Partei, sondern insbesondere an der Person und dem Namen von Ihnen, Herr Ministerpräsident Kretschmann, kleben bleiben. Er wird da kleben bleiben wie Pech und sehr zum Wohlgefallen der Projektinitiatoren, die Ihnen den Schwarzen Peter zuschieben konnten, noch dazu mit dem für sie angenehmen Nebeneffekt, die Bewegung der Obenbleiber und die GRÜNE Landesregierung zu spalten und gegeneinander auszuspielen. Aber auch der Schaden für Ihre eigene Partei wird beträchtlich sein. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusagen, dass sich eine Partei, die bei der erstbesten Belastungsprobe ihre Inhalte über Bord kippt und sich zum Papiertiger degradiert, in Zukunft keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen wird. Und ich wette, auch das machtpolitische Kalkül von Frau Künast in Berlin, die auf eine grünrote Koalition auf Bundesebene im Wahljahr 2013 schielt, wenn nur hier in Baden-Württemberg die Koalition hält, wird nicht aufgehen.

Die Appelle an unsere Regierung haben in diesen Tagen inflationäre Ausmaße angenommen. Trotz der Befürchtung, dass sie ungehört verhallen, weigere ich mich derzeit noch, alle Hoffnung fahren zu lassen. Und appelliere somit noch einmal an die Adresse der grünen Fraktion und des Ministerpräsidenten: Machen Sie sich nicht mit dem Schlossgarten-Kahlschlag die Finger schmutzig! Machen Sie sich nicht zu Handlangern der Betreiber- und Befürworterseite! Diese wollen Sie nur zu gern in der Rolle der Exekutoren jenes miesesten aller Jobs im Vorfeld ihres Bauvorhabens sehen. Trauen Sie sich, aus dem perfiden Spiel eines machtbesessenen Konzerns auszusteigen, der mit der Egozentrik eines außer Rand und Band geratenen Kinderzimmertyrannen um sich schlägt. Ihnen wird am Ende nur die zweifelhafte Ehre bleiben, die Scherben zusammenzufegen, wenn alles kaputt ist.

Bauen Sie nicht darauf, dass der Protest der Obenbleiber aufhören wird und Sie als Regierungskoalition Ruhe bekommen, wenn im Schlossgarten erst die Bäume geopfert sind. Bewegungen wie die unsere finden nur aus einem einzigen Grund ein vorzeitiges Ende: dann nämlich, wenn offenbar wird und man zugeben muss, dass man sich in der Sachlage getäuscht hat. Das aber ist bei uns absolut nicht der Fall. Uns macht jeder Tag sicherer, dass wir uns nicht täuschen. Jeder Tag bringt uns aufs Neue die Bestätigung, dass Stuttgart 21 ein miserabel geplantes Projekt von lausiger Qualität ist mit einem Rattenschwanz von Fehlern und Mängeln, der kein Ende nimmt. Wenn Sie also meinen, die Schaffung unumkehrbarer Tatsachen werde unseren Widerstand schon zum Erlöschen bringen, dann kennen Sie uns schlecht.

Das Gegenteil wird der Fall sein. Die Schlossgartenrodung wird der Paukenschlag sein, der unsere Bewegung noch enger zusammenschweißt. Verlassen Sie sich darauf: Sie werden uns nicht los, es sei denn, das Projekt stirbt, und dieses Projekt wird sterben. Bis dahin sagen wir weiter: Wir bleiben mutig, wir bleiben zusammen, wir bleiben oben!

Offener Brief von Guntrun Müller-Enßlin an MP Kretschmann bezüglich drohender Baumfällungen im Mittleren Schlossgarten

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
in diesen Tagen erwarten wir die Stellungnahme des Eisenbahnbundesamts in Bezug auf die geplanten Baumrodungen im mittleren Schlossgarten für Stuttgart 21. Aufgrund fehlender anders lautender Signale Ihrerseits in der vergangenen Zeit stehen die Zeichen für die Gegner des Großprojekts Stuttgart 21 auf Alarm, müssen wir doch davon ausgehen, dass die Fällung der Bäume im Schlossgarten, darunter vieler prachtvoller mehrhundertjähriger Riesen unmittelbar bevorsteht. Es sieht so aus, als könne nichts mehr diesen barbarischen Akt aufhalten. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle mit einem eindringlichen Appell an Sie, den Menschen, den Christen, den GRÜNEN Winfried Kretschmann wenden.

Eine auch Ihnen bekannte Mitstreiterin, die mir in den letzten anderthalb Protestjahren eine gute Freundin geworden ist, hat mir einmal geschrieben: „Ich habs ja nicht so mit der Sünde – aber die Bäume im Schlossgarten zu fällen, das ist eine!“ Recht hat sie! Unser Schlossgarten mit seinem vielfältigen Baumbestand mitten in der City, um den uns andere Städte beneiden, dieser Schlossgarten ist etwas vom besten, was Stuttgart zu bieten hat! Es will einem nicht in den Kopf, dass es möglich sein soll, die Instrumente unserer Demokratie zur Durchsetzung einer solch bodenlosen Dummheit wie der Zerstörung dieser für das Stadtklima unbedingt notwendigen Oase zu missbrauchen. Anders gefragt: Muss man wirklich zulassen, dass einem kollektiven Organismus, zu dem man selber gehört, die Lunge herausgeschnitten wird, nur weil eine Mehrheit sich dafür ausgesprochen hat, in Zukunft ohne Lunge leben zu wollen?

Da Sie vor Ihrer Wahl zum Ministerpräsidenten auf unserer Seite gegen das Projekt gestritten haben, müsste Ihnen bewusst sein, dass die Baumfällungen den neuralgischen Punkt der Bewegung treffen, an dem diese am empfindlichsten reagiert. Die Fällungen werden bei den Mitstreitern gegen S21 eine Narbe hinterlassen, die sie diesen mit Billigung Ihrer Regierung begangenen Frevel weder verzeihen noch vergessen lassen werden. Der Makel der Schlossgartenrodung wird für alle Zeit nicht nur an Ihrer grünen Partei, sondern insbesondere an Ihrer Person und Ihrem Namen kleben bleiben wie Pech, sehr zum Wohlgefallen der Projektinitiatoren, die diese unrühmliche Rolle an Sie weiterreichen konnten mit dem für sie angenehmen Nebeneffekt, die Bewegung der Obenbleiber und die GRÜNE Landesregierung zu spalten und gegeneinander auszuspielen. Doch nicht nur Projektgegner und der grüne Teil Ihrer Regierung werden in Zukunft auseinanderdividiert sein, sondern auch quer durch die Partei der GRÜNEN wird sich ein Riss ziehen. Das alles wird in der Folge dazu führen, dass Ihre Partei bei einer Wahl in Baden-Württemberg in Zukunft nie wieder einen Fuß auf den Boden bekommen wird.

Ich appelliere deshalb an Sie und an die Adresse der GRÜNEN Mitglieder in der Landesregierung: Machen Sie sich nicht mit den Baumfällungen zu Handlangern der Betreiber- und Befürworterseite, die Sie nichts lieber als in der Rolle der Exekutoren jenes miesesten aller Jobs im Vorfeld ihres Bauvorhabens sehen wollen. Machen Sie sich nicht die Finger schmutzig mit diesen Fällungen, die alles konterkarieren, was Ihre Partei sich je auf die Fahnen geschrieben hat. Wer A sagt, muss nicht B sagen, wenn er erkannt hat, dass B falsch ist (Dies sagt nicht Hannah Arendt sondern Bertold Brecht). Und wer zugleich mit dem Ausgang des Volksentscheids sein Gewissen und seinen gesunden Menschenverstand wie ein unmodisch gewordenes Kleidungsstück in die Mottenkiste legt, kann irgend etwas in Sachen Demokratie nicht richtig verstanden haben.

Sie wissen, wie wir alle, dass die drohenden Fällungen im Schlossgarten kein Schicksal sind. Kein Wunder ist nötig, um sie zu verhindern. Es würde genügen, wenn Sie die Argumentationsspielräume ausschöpfen würden, die Sie mit der Ausformulierung Ihres eigenen grünroten Koalitionsvertrags festgeschrieben haben.

Ein Letztes: Sie täuschen sich, falls Sie darauf bauen, dass der Protest der Obenbleiber aufhören und Sie als Regierungskoalition Ruhe bekommen werden, wenn im Schlossgarten das Opfer der Baumfällungen vollbracht sein wird. Bewegungen wie die unsere finden nur aus einem einzigen Grund ein vorzeitiges Ende: dann nämlich, wenn offensichtlich ist und man zugeben muss, dass man sich in der Sachlage getäuscht hat. Das aber ist bei uns nun gerade nicht der Fall. Uns macht jeder Tag sicherer, dass wir uns nicht täuschen. Jeder Tag bringt in Bezug auf Stuttgart 21 neue pikante, prekäre und hochpeinliche Details ans Licht, die die vielen klugen Köpfe in unserer Mitte schon lange vorhergesagt haben. Glauben Sie also nicht, die Schaffung unumkehrbarer Tatsachen werde unseren Widerstand schon zum Erlöschen bringen. Das Gegenteil wird der Fall sein. Sie werden uns nicht los, es sei denn, das Projekt stirbt, und es wird sterben. Geben Sie bis dahin nicht weiter die Marionetten im Theaterstück der Bahn, sondern steigen Sie endlich aus jener perfiden Inszenierung aus, an dessen Ende im Herzen von Stuttgart nicht nur denkmalgeschützte funktionsfähige Bausubstanz, sondern vor allem intakte Natur unwiederbringlich zerstört sein wird.

Guntrun Müller-Enßlin

Zum Ausdrucken oder weiterverbreiten als pdf: Offener Brief an MP Kretschmann

Alexander Müller und Montserrat Graupenschläger: Politik hacken

Ein Vortrag von Alexander Müller und Montserrat Graupenschläger auf dem 28th Chaos Communication Congress – Behind Enemy Lines.
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Video-Beschreibung von 28c3

Politik hacken: Kleine Anleitung zur Nutzung von Sicherheitslücken gesellschaftlicher und politischer Kommunikation.

Klassischer Protest, konventionelle Demos, Online-Petitionen und Bürgerinitiativen werden seit einiger Zeit durch neue Instrumente der politischen Partizipation ergänzt. Deren Stärke liegt in dezentraler Organisation, Kommunikationsguerilla-Aktionen, diskursiver Intervention und kolaborativer Spontaneität. Der Vortrag stellt anhand von Beispielen ein Toolset an Möglichkeiten des regelverletzenden und gewaltfreien Mitmischens und Einmischens in Politik vor.

Anonymous, die Hedonistische Internationale, Telecomix oder die Space Hijackers sind einige der Netzwerke, die eine neue Art des Protests und der politischen Einmischung erproben. Ihnen ist gleich, dass sie mit ihren Aktionen immer auch in den medialen Diskurs eingreifen wollen – und auf eine Richtig- bzw. Weichenstellung für eine andere Wahrnehmung der Welt setzen. Das gilt sowohl für die Wahrnehmung der Medien als auch für die Wahrnehmung von Politik. Bilder und Images werden uminterpretiert, gesellschaftliche Codes geknackt, offene Flanken genutzt. Dabei setzt diese Form des Protests auf Regelverletzung und eine neue Interpretation der Zeichen.

Die Aktionen der Aktivistinnen können sehr unterschiedlich aussehen. So können Demos regelrecht gehackt werden, wie etwa eine Demonstration von Guttenberg-Anhängern. In diesem Fall war es der Hedonistischen Internationale (HI) gelungen, eine Pro-Guttenberg-Demonstration bei der Versammlungsbehörde anzumelden und die Mobilisierung der echten Guttenberg-Fans zu nutzen – und diese dann auf der Demonstration umzudeuten. Hierdurch wurde die Person Guttenberg zum Abgang noch einmal so lächerlich gemacht, dass eine Rückkehr des ehemaligen Verteidigungsministers zumindest heute unwahrscheinlich erscheint.

Um News-Hacking ging es in einer gemeinsamen Aktion der HI und „Der Partei“. Hier nutzten die Aktivisten den klassischen „18 Uhr Wahlabend“-TV-Moment, um die Niederlage der Berliner FDP auf deren Wahlparty bei Freibier live im Fernsehen zu feiern.

Die Space Hijackers aus Großbritannien hingegen fahren mit einem Panzer vor der Bank of Scotland auf – und freuen sich diebisch als die Polizei diesen beschlagnahmt und dabei mehrere Gebäude beschädigt.

Oft reicht es auch, zum richtigen Zeitpunkt die Identität eines politischen oder ökonomischen Players zu übernehmen, um die mediale Darstellung der Welt mit der eigenen Realtät in Einklang zu bringen. Wenn nach Fukushima die deutsche Atomlobby auf einmal die zynische Wahrheit twittert oder Überwachungsfirmen wie DigiTask Twitter-Dialoghotlines einrichten, sorgt dies nicht nur für Verwirrung, Freude, medienträchtige juristische Androhungen, sondern trägt auch zu einer veränderten Wahrnehmung dieser Player selbst bei.

Die Politik zu hacken bedeutet die Sicherheitslücken der gesellschaftlicher Kommunikation zu nutzen, um auch in Zukunft genussvoll frei leben zu können.

All dies kann man selber machen. Wir sagen wie.

Beschreibung: http://events.ccc.de/congress/2011/Fahrplan/events/4804.en.html